EXTREME. SELF
Darmstädter Tage der Fotografie und Kunstforum der TU Darmstadt
26. Mai bis 19. August 2018
Interview mit Laís Pontes
RAY: Du präsentierst deine Serie "Born Nowhere" auf der Fotografie-Triennale RAY 2018. Seit wann arbeitest du an diesem Projekt?
Laís Pontes: Die erste Idee dazu kam, als ich 2011 nach New York zog, um am International Center of Photography zu studieren. Ich hatte meine Komfortzone verlassen und begann ein neues Lebens. In dieser Zeit war ich wieder sehr empfänglich für neue Ideen und bereit, alles, was ich bisher gelernt hatte, in Frage zu stellen. In Anbetracht dessen, dass das Urteil anderer Menschen einen diktieren kann und oft auch tut und bestimmt wer man wirklich ist, habe ich mir die Meinung anderer Menschen über mich angehört und gleichzeitig versucht, basierend auf diesen Meinungen, jemand anderes zu werden.
Da ich seit mehr als zwanzig Jahren online interagiere, war es für mich selbstverständlich, Social Media Plattformen als Werkzeug bei der Erstellung dieses Anderen zu nutzen. Ich entschied mich, mit Facebook-Nutzern zu kommunizieren, um schneller Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Nach und nach erkannte ich die Bedeutung von Social Media Plattformen. Nicht nur für mich, sondern für viele von denen, mit denen ich verbunden war.
RAY: Was war deine künstlerische Motivation für die Erforschung der Identitätskonstruktion im Zeitalter der sozialen Medien?
LP: Ich bin seit meinem vierzehnten Lebensjahr im Internet sehr aktiv. Deswegen war es für mich als Künstlerin selbstverständlich, die Wirkung von Social Media Plattformen in Hinsicht auf Identitätskonstruktionen zu hinterfragen. Ich werde ständig gefragt, ob ich in meiner Arbeit Social Media feiere oder kritisiere, und die Antwort ist, dass ich sowohl die positiven als auch die negativen Seiten daran sehe. Mit meiner Arbeit möchte ich die Betrachter ermutigen, ihre eigene kritische Sicht auf die sozialen Medien und ihre Auswirkungen auf sie und unser aller Leben zu hinterfragen und zu gestalten.
RAY: Was ist die Hauptplattform für dein Kunstwerk? Ist Facebook deine Ausstellungsfläche und das Museum bzw. die Galerie nur ein Raum für die Dokumentation deines Projekts? Produzierst du deine Arbeiten für die Social Media Community oder das kunstbezogene Publikum?
LP: Facebook und Instagram sind die wichtigsten Plattformen für meine Kunstwerke. Social Media Plattformen werden als künstlerisches Werkzeug sowie als interaktiver Ausstellungsraum genutzt. Nachdem die Biographie des Charakters definiert ist, werden die Social Media Plattformen zu einem Dokumentationsraum.
Wenn die Arbeit in physischen Institutionen wie Galerien und Museen gezeigt wird, konzentriert sie sich auf den Ausstellungs- und Dokumentationsaspekt der Arbeit, aber da Born Nowhere auch einen QR-Code aufweist, sind die Betrachter dazu eingeladen wieder online mit zu agieren und zu kommentieren. Ich möchte meine Arbeit auch jedem zugänglich machen, der sich für Social Media interessiert, und das physische Ausstellungsformat macht die Arbeit greifbar und damit für ein breites Publikum zugänglich.
RAY: Amalia Ulmans viel diskutierte Performance auf Instagram, Excellences & Perfections, verheimlichte die virtuelle Identität ihrer fiktiven Figur. Viele Anhänger fühlten sich danach verraten. Du enthüllst die digitale Entwicklung deiner Charaktere. Wie wichtig ist der seriöse Umgang mit den Followern und der Social Media Community für deine Arbeit?
LP: In meinen Werken habe ich immer die Aussagen zur Verfügung gestellt, ebenso wie ich offensichtlich gefälschte Namen verwendet habe und jedem Charakter den Titel der Projekte, Born Nowhere oder Born Now Here, als Nachnamen zugewiesen habe. Die Idee war, niemanden zu täuschen. Da ich jedoch wahre Fakten aus meinem und dem Privatleben meiner Freunde verwendet habe, waren einige Facebook-Nutzer verwirrt. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Verwirrung aufgekommen wäre, wenn ich meine Social-Media-Projekte im Jahr 2018 durchgeführt hätte.
RAY: Wie wichtig ist die Anzahl der Follower und Likes für dich?
LP: Die Kommentare sind wesentlich für dieses Werk. Ohne sie würde die Arbeit nicht existieren. Ich benutze meine Kunstwerke, um mich selbst und andere zu verstehen und mit ihnen zu interagieren. Mich fasziniert die Idee, Mitbenutzer als Mitgestalter zu haben. Durch das partizipatorische Element bleiben meine Kunstprojekte in einem ständigen Wandel, der nie möglich wäre, wenn ich alleine arbeiten würde.
RAY: Wir nehmen so viele verschiedene Rollen im wirklichen Leben ein: Du bist Künstlerin, Mutter, Frau, Tochter,... . Welche Rolle spielen deine Avatare in deinem Leben?
LP: Es sind Charaktere, die ich aus sehr persönlicher Inspiration oder Notwendigkeit für mich erschaffen, aber nie jemandem offenbart habe. Sie waren ein Freund, ein Familienmitglied, ein Gefühl oder ein Moment in der Vergangenheit. Es war egal, wer sie waren. Für andere waren sie das, was sie sahen. Und was sie sahen, wurde zu dem, was die Figuren heute sind. Als ich den Facebook-Nutzern meine Gefühle und Erinnerungen in Form von Charakteren gab, erfanden sie sie neu, um etwas Größeres als meine persönlichen Geschichten zu werden.
RAY: Dein Projekt "BORN NOW HERE", das ebenfalls im Kunstforum ausgestellt ist, ist aus der Arbeit an BORN NOWHERE resultiert. Du hast vier der aus der Menge stammenden Charaktere ausgewählt und ihnen die Möglichkeit gegeben, sich im Laufe des Kurses weiterzuentwickeln.
LP: Als sich meine Projekte zu Social Media entwickelten, stellte ich mir Fragen wie: Können Online- und Offline-Aktionen ineinander greifen? Haben Online- und Offline-Aktionen ein unterschiedliches "Gewicht" für die Konstruktion von Identität? Ist Online-Identität eine Erweiterung von uns selbst? Ich war fasziniert von den neuen Persona, die Menschen erschufen, um eine bessere Version von sich selbst und den Auswirkungen dieser Aktion auf ihr Leben zu präsentieren. Deshalb habe ich mich entschlossen, zuerst einige der Charaktere in meinem Alltag zu verkörpern und dann, nachdem ich einige Erfahrungen gesammelt hatte, auch andere Teilnehmer eingeladen, die Charaktere zu verkörpern. Dieser Austausch hat meine bisherigen Fragen verbessert und neue wertvolle Fragen geschaffen.
RAY: Dieses Projekt wirft viele komplexe Fragen auf, wie zum Beispiel "Ist Online-Identität eine Erweiterung von uns selbst? Kannst du diese Frage heute - nach der Realisierung dieser Arbeit - beantworten?
LP: Ich glaube, es ist in gewisser Weise im Sinne von: wir tun Dinge, um den Inhalt online zu stellen, jemandem "oder vielen" zu gefallen bedeutet, über ein Icon gemocht zu werden, unser fotografisches Auge ist jetzt quadratisch, wir erinnern uns nicht mehr an den Geburtstag unserer Freunde, wenn Facebook uns nicht daran erinnert, und viele andere soziale Veränderungen. So wie einst das Fernsehen unser Weltbild beeinflusste, hat unser Verhalten auf Social Media Plattformen heute unser Verhalten außerhalb der virtuellen Welt drastisch beeinflusst.
RAY: Social Media nimmt im täglichen Leben extrem zu. Welche Gefahren siehst du in dieser EXTREME-Veränderung?
LP: Die größte Gefahr besteht darin, die Gefahren zu ignorieren. Es gibt immer noch Millionen von Menschen, die sich der Macht der sozialen Medien nicht bewusst sind, nicht nur ihrer Negativität, sondern auch als Werkzeug einer positiven Veränderung. EXTREM ist gut, wenn es einen Unterschied macht.